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Ich bin ein Medizinmann … Lame Deer - Tahca Ushte, Sioux
Ich bin ein Medizinmann, ein WICASA WAKAN. Medizinmann das ist ein Wort, das die Weißen erfunden haben. Ich wünschte, es gäbe ein besseres Wort, um auszudrücken, was „Medizinmann" für uns bedeutet, aber ich finde keines und du auch nicht, und so müssen wir uns wohl damit zufriedengeben. Ein wicasa wakan muß viel und oft mit sich allein sein. Er will weg von der Menge, weg von den kleinen alltäglichen Dingen. Er liebt es zu meditieren, sich an einen Baum oder an einen Felsen zu lehnen und zu fühlen, wie sich die Erde unter ihm bewegt und wie über ihm das Gewicht des weiten flammenden Himmels lastet. Auf diese Weise lernt er zu
verstehen. Er schließt die Augen und beginnt klarer zu sehen. Was du mit geschlossenen Augen siehst, das zählt. Der wicasa wakan liebt die S TILLE , er hüllt sich in sie ein wie in eine Decke eine Stille, die nicht schweigt, die ihn mit ihrer donnergleichen Stimme vieles lehrt. Solch ein Mann liebt es, an einem Ort zu sein, wo er nur das Summen der Insekten hört. Er sitzt, das Gesicht gegen Westen, und bittet um Beistand. Er redet mit den Pflanzen, und sie antworten ihm. Er lauscht den Stimmen der WAMA KASKAN - - der Tiere. Er wird einer von ihnen. Von allen Lebewesen fließt etwas in ihn ein, und auch von ihm strömt etwas aus. Ich weiß nicht, was und wie, aber es ist so. Ich habe es erlebt. Ein Medizinmann muß der Erde angehören, muß die Natur lesen können wie ein weiser Mann ein Buch. Wir müssen lernen , uns als Teil dieser Erde zu sehen, nicht als einen Feind, der von außen kommt und ihr seinen Willen aufzuzwingen sucht. Wir, die wir das G EHEIMNIS DER P FEIFE kennen, wissen auch, daß wir als lebendiger Teil dieser Erde ihr nicht Gewalt antun können, ohne uns selber zu verletzen. Lasst uns alle hier niedersitzen , in der freien P RÄRIE , wo wir keine Straße und keinen Zaun sehen. Setzen wir uns nicht auf eine Decke, unsere Körper sollen den Boden spüren, die Erde, den Widerstand der Stau - den, die sich unserer Berührung anpassen. Das Gras soll unsere Matratze sein, damit wir seine Schärfe spüren und seine Weichheit. Laßt uns wie Steine sein, wie Pflanzen und Bäume. Laßt uns Tiere sein, laßt uns denken und fühlen wie sie. Horch auf die L UFT ! Du kannst sie hören, sie spüren, sie riechen und schmecken. W ONIYA W AKAN , die heilige Luft, die alles mit ihrem Atem erneuert. W ONIYA , WONIYA WAKAN : Geist, Leben, Atem, Neuwerdung das Wort bedeutet all dies. W ONIYA wir sitzen nebeneinander, wir berühren uns nicht, aber etwas ist da; wir fühlen, daß etwas in unserer Mitte gegenwärtig ist. Das ist ein guter Anfang, um über die Natur nachzudenken und über sie zu reden. Aber reden wir nicht nur über sie reden wir mit ihr, sprechen wir mit den Flüssen, den Seen und den Winden wie mit unseren Verwandten. Was siehst du hier, mein Freund? Nur einen gewöhnlichen alten K OCHTOPF , verbeult und schwarz vom Ruß. Er steht auf dem Feuer, auf diesem alten Holzofen da, das Wasser darin brodelt, und der aufsteigende Dampf bewegt den Deckel. Im Topf ist kochendes Wasser, Fleisch mit Knochen und Fett und eine Menge Kartoffeln. Es scheint, als hätte er keine Botschaft für uns, dieser alte Topf, und du verschwendest bestimmt keinen Gedanken an ihn. Außer, daß die Suppe gut riecht und dir bewußtmacht, daß du hungrig bist. Aber ich bin ein Indianer. Ich denke über einfache, alltägliche Dinge wie diesen Topf hier nach. Das brodelnde Wasser kommt aus der Regenwolke. Es ist ein S INNBILD FÜR DEN H IMMEL . Das Feuer kommt von der Sonne, die uns alle wärmt Menschen, Tiere, Bäume. Das Fleisch erinnert mich an die vierbeinigen Geschöpfe, unsere Brüder, die Tiere, die uns Nahrung geben, damit wir leben können. Der D AMPF ist Sinnbild für den Lebensatem. Er war Wasser; jetzt steigt er zum Himmel auf, wird wieder zur Wolke. All das ist heilig. Wenn ich diesen Topf voll guter Suppe betrachte, denke ich daran, wie Wakan Tanka, das Große Geheimnis, auf diese einfache Art und Weise für mich sorgt. Wir Sioux denken oft und viel über alltägliche Dinge nach, für uns haben sie eine Seele. Die Welt um uns ist voller Symbole, die uns den Sinn des Lebens lehren. Ihr Weißen, so sagen wir, seid wohl auf einem Auge blind, weil ihr so wenig seht. Wir sehen vieles, das ihr schon lange nicht mehr be- merkt. Ihr könntet es auch sehen, wenn ihr nur wolltet, aber ihr habt keine Zeit mehr dafür — ihr seid zu beschäftigt. Wir Indianer leben in einer Welt von S YMBOLEN UND B ILDERN , in der das Geistige und das Alltägliche eins sind ~ Für euch sind Symbole nichts als Worte, gesprochene oder in einem Buch aufgeschriebene Worte. Für uns sind sie Teil der Natur, Teil von uns selber die Erde, die Sonne, der Wind und der Regen, Steine, Bäume, Tiere, sogar kleine Insekten wie Ameisen und Grashüpfer. Wir versuchen sie zu verstehen, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen, und ein winziger Hinweis genügt uns, ihre Botschaft zu erfassen. Alles was ihr esst , wird in eine P LASTIKHÜLLE gepackt, ist sauber zerteilt und vorbereitet für die Pfanne, hat keinen Geschmack und erweckt in euch keine Schuldgefühle. Wenn ihr eure N ERZ - ODER R OBBENMÄNTEL tragt, wollt ihr nicht daran erinnert werden, wieviel Blut und Schmerz sie gekostet haben. Wenn wir einen B ÜFFEL TÖTETEN , dann wußten wir, was wir taten. Wir baten seinen Geist um Vergebung und sagten ihm, warum wir es tun mußten. Wir ehrten mit einem Gebet die Gebeine derer, die uns ihr Fleisch als Nahrung gaben, wir beteten, daß sie wiederkommen sollten, wir beteten für das Leben unserer Brüder, des Büffelvolkes, genauso wie für unser eigenes Volk. Für uns ist alles Leben heilig. Der Staat Dakota hat eigene Beamte für die S CHÄDLINGSBEKÄMPFUNG . Sie setzen sich in ein Flugzeug und erschießen die Kojoten von der Luft aus. Sie führen Buch darüber, jeder tote Kojote wird in ihr Notizheft eingetragen. Die Vieh- und Schafzüchter bezahlen sie dafür. Kojoten ernähren sich von Nagetieren, von Feldmäusen und an- derem kleinem Getier. Gelegentlich fressen sie ein Schaf, das sich verlaufen hat. Sie sind die natürlichen Abfallverwerter, sie säubern das Land von allem, was faulig ist und stinkt. Wer sich die Mühe macht und sie zähmt, für den sind sie gute Spielgefährten. Doch wenn sie am Leben bleiben, haben einige Leute Angst, ein paar Cent zu verlieren und deshalb tötet man sie vom Flugzeug aus. D IE K OJOTEN waren in diesem Land, bevor die Schafe hierherkamen, aber sie sind euch im Weg: Ihr könnt aus ihnen keinen Profit schlagen. Mehr und mehr Tiere sterben aus. Die Tiere, die der Große Geist in dieses Land gesetzt hat, müssen fort. Nur die Haustiere, nur die vom Menschen gezüchteten Tiere dürfen leben zumindest so lange, bis man sie in den S CHLACHTHOF treibt. Dieser entsetzliche Hochmut des weißen Menschen, der sich anmaßt, mehr als Gott zu sein, mehr als die Natur! Der Weiße sagt: „Ich lasse dieses Tier leben, denn es bringt mir Geld"; und er sagt: „Jenes Tier muß sterben, ich kann an ihm nichts verdienen, den Platz, den es braucht, kann ich besser verwenden. Nur ein toter Kojote ist ein guter Kojote." Die Weißen behandeln die Kojoten fast so schlimm, wie sie einst uns Indianer behandelt haben. Ihr verbreitet Tod, ihr KAUFT UND VERKAUFT T OD , aber ihr verleugnet ihn; ihr wollt ihm nicht ins Gesicht sehen. Ihr habt den Tod steril gemacht, unter den Teppich gekehrt, ihn seiner Würde beraubt. Wir Indianer jedoch denken noch an den Tod, denken viel über ihn nach. Auch ich tue es. Heute wäre ein GUTER TAG ZUM STERBEN — nicht zu heiß, nicht zu kalt —‚ ein Tag, an dem etwas von mir zurückbleiben könnte, um noch ein wenig hier zu verweilen. Ein vollkommener Tag für einen Menschen, der an das Ende seines Weges kommt. Für einen Menschen, der glücklich ist und viele Freunde hat. Bevor unsere weissen Brüder kamen, um zivilisierte Menschen aus uns zu machen, hatten wir keine Gefängnisse. Aus diesem Grund hatten wir auch KEINE V ERBRECHER . Ohne ein Gefängnis kann es keine Verbrecher geben. Wir hatten weder Schlösser noch Schlüssel, und deshalb gab es bei uns keine Diebe. Wenn jemand so arm war, daß er kein Pferd besaß, kein Zelt oder keine Decke, so bekam er all dies geschenkt. Wir waren viel zu unzivilisiert, um großen Wert auf persönlichen Besitz zu legen. Wir strebten Besitz nur an, um ihn weitergeben zu können. Wir kannten kein Geld, und daher wurde der W ERT EINES M ENSCHE n nicht nach seinem Reichtum bemessen. Wir hatten KEINE SCHRIFTLICH NIEDERGELEGTEN G ESETZE , keine Rechtsanwälte und Politiker, daher konnten wir einander nicht betrügen. Es stand wirklich schlecht um uns, bevor die Weißen kamen, und ich kann es mir nicht erklären, wie wir ohne die grundlegenden Dinge auskommen konnten, die wie man uns sagt für eine zivilisierte Gesellschaft so notwendig sind. Der Rauch aus unserer heiligen Pfeife ist der Atem des Großen Geistes. Wenn wir beisammensitzen und die Pfeife rauchen, bilden wir einen Kreis, der ohne Ende ist und alles umschließt, was auf der Erde lebt. Im Denken des Indianers ist der K REIS , der Ring ein wichtiges Symbol. Die Natur bringt alles rund hervor. Die Körper der Menschen und der Tiere haben keine Ecken. Für uns bedeutet der Kreis die Zusammengehörigkeit von Menschen, die gemeinsam um das Feuer sitzen, Verwandte und Freunde in Eintracht, während die Pfeife von Hand zu Hand geht. Das Lager, in dem jedes T IPI seinen bestimmten Platz hatte, war ebenfalls ein Ring. Auch das Tipi selber war ein Kreis, in dem Menschen im Kreis saßen, und alle Familien eines Dorfes waren Kreise im größeren Kreis, Teil des großen Ringes der sieben Lagerfeuer der Sioux, die zusammen ein Volk bildeten. Dieses Volk wieder war nur ein kleiner T EIL DES U NIVERSUM s, das kreisförmig ist und aus der Erde, der Sonne, den Sternen besteht, die alle rund sind. Mond, Horizont, Regenbogen auch sie sind Kreise in größeren Kreisen, ohne Anfang, ohne Ende. All das ist für uns schön und voller Bedeutung; Symbol und Wirklichkeit zugleich drückt es die Harmonie von Leben und Natur aus. Unser K REIS IST ZEITLOS , steht nie still; aus dem Tod geht neues Leben hervor Leben, das den Tod besiegt. Das Symbol des weißen Mannes dagegen ist das V IERECK . Viereckig sind seine Häuser und Bürogebäude, und sie haben Wände, die die Menschen voneinander abschließen. Viereckig ist die Tür, die dem Fremden den Eintritt verwehrt, der Geldschein, das Gefängnis. Viereckig sind auch die Geräte der Weißen nichts als Schachteln und Kisten Fernsehapparate, Radios, Waschmaschinen, Computer, Autos. Alles hat Ecken und scharfe Kanten selbst die Zeit ist nicht mehr rund, die Zeit des weißen Mannes, bestimmt von Terminen, Stechuhren und Stoßzeiten. Wir Sioux sind kein einfaches Volk - wir sind sehr kompliziert. Wir schauen alles immer aus VERSCHIEDENEN B LICKWINKELN an. Für uns ist in der Freude Schmerz und im Schmerz Freude, genauso wie wir einen Clown gleichzeitig als lustige und tragische Figur empfinden. Alles ist Teil desselben Ganzen der Natur, die weder traurig ist noch glücklich: sie ist einfach da. Wir Sioux fühlen uns mit dem Büffel verwandt . Er ist unser Bruder. Du wirst niemals die Natur verstehen und was sie für uns bedeutet, bevor du nicht begreifst, wie eng wir mit dem Büffel verbunden waren. Dieses Tier war beinahe ein Teil von uns selber, ein Teil unserer Seele. Der Büffel gab uns alles, was wir brauchten. Ohne ihn hätten wir N ICHT ÜBERLEBEN können. Unsere Tipis waren aus seiner Haut gemacht. Sein Fell war unser Bett, unsere Decke, unsere Winter- kleidung. Seine Haut war unsere Trommel, ihre Schläge durchpulsten die Nacht, lebendig und heilig. Aus seiner Haut fertigten wir unsere Wassergefäße an. Sein Fleisch gab uns Kraft, wurde Fleisch von unserem Fleisch. Nicht das kleinste Stück wurde verschwendet. Sein Magen, in den wir einen glühendheißen Stein warfen, war unser Suppenkessel. Seine Hörner waren unsere Löffel, seine seine Knochen unsere Messer und für unsere Frauen Ahle und Nadel. Aus seinen Sehnen drehten wir unsere Bogenstränge, und wir benützten sie als Faden zum Nähen. Aus seinen Rippen bauten wir Schlitten für unsere Kinder, seine Hufe wurden Rasseln. Sein mächtiger Schädel, an den wir die Pfeife lehnten, war unser Altar. Der Name des größten aller Sioux war T ATANKA I YOTAKE Sitting Bull . Als ihr den Büffel ausgerottet habt, habt ihr auch den Indianer getötet — den wirklichen, echten wilden Indianer. Lachen ist etwas sehr Heiliges, besonders für uns Indianer. Für Menschen, die arm sind wie wir, die alles verloren haben, die soviel Trauer und Tod ertragen mußten, ist das Lachen ein wertvolles Geschenk. Als wir an den Krankheiten, die uns der weiße Mann brachte, wie die Fliegen starben, als man uns in die Reservationen trieb, als die Essensrationen der Regierung nicht eintrafen und wir am V ERHUNGERN waren zu solchen Zeiten muß es ein Segen gewesen sein, den Possen eines hevoka* zuzusehen. Auch der Mensch besteht aus Vielerlei. Woraus immer die Luft ist, die Erde, die Kräuter, die Steine, all das ist auch Teil unserer Körper. Wir müssen wieder lernen, wir selber zu sein und die Vielfalt in uns zu fühlen und zu entdecken. W AKAN T ANKA , das Große Geheimnis, lehrt Tiere und Pflanzen, was sie tun sollen. In der Natur gleicht nichts dem anderen. Wie verschiedenartig sind die Vögel! Einige bauen Nester, andere nicht. Manche Tiere leben in Erdlöchern, andere in Höhlen, andere in Büschen. Wieder andere kommen überhaupt ohne Behausung aus. Sogar Tiere derselben Art zwei Hirsche, zwei Eulen verhalten sich unterschiedlich. Ich habe viele Pflanzen aufmerksam betrachtet. Von den Blättern einer Pflanze, die alle auf demselben Stengel wachsen, ist keines ganz wie das andere. Auf der ganzen Erde gibt es keine zwei Blätter, die einander völlig gleichen. Der Große Geist hat es so gewollt. Für alle Geschöpfe auf der Erde hat er den Lebenspfad bloß im großen vorgezeichnet; er zeigt ihnen die Richtung und das Ziel, läßt sie aber ihren eigenen Weg dorthin finden. Er will, daß sie selbständig handeln, ihrem Wesen gemäß und ihren INNEREN K RÄFTEN gehorchend. Wenn nun W AKAN T ANKA will, daß Pflanzen, Tiere, sogar die kleinen Mäuse und Käfer, auf diese Weise leben um wieviel mehr werden ihm Menschen, die alle dasselbe tun, ein Greuel sein: Menschen, die zur selben Zeit aufstehen, die gleichen im Kauffhaus erstandenen Kleider anziehen und dieselbe U-Bahn benützen, die im selben Büro sitzen, die gleiche Arbeit ver richten, auf ein und dieselbe Uhr starren und was am schlimmsten ist deren Gedanken einander zum Verwechseln ähnlich sind. Alle Geschöpfe leben auf ein Ziel hin. Selbst eine Ameise kennt dieses Ziel nicht mit dem Verstand, aber irgendwie kennt sie es. Nur die Menschen sind so weit gekommen, daß sie nicht mehr wissen, WARUM SIE LEBEN . Sie benützen ihren Verstand nicht mehr, und sie haben längst vergessen, welche geheime Botschaft ihr Körper hat, was ihnen ihre Sinne und ihre Träume sagen. Sie gebrauchen das Wissen nicht, das der Große Geist jedem von uns geschenkt hat, sie sind sich dessen nicht einmal mehr bewußt, und so STOLPERN SIE BLINDLINGS AUF DER S TRAßE D AHI n, die nach Nirgendwo führt auf einer gut gepflasterten Autobahn, die sie selber ausbauen, schnurgerade und eben, damit sie umso schneller zu dem GROßEN LEEREN L OC h kommen, das sie am Ende erwartet, um sie zu verschlingen.
2006-2020 | UpDate Januar 2021

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